Tag 1: Canmore – Banff – Kananaskis Lake, 25.6.202
Nach der kurzen Nacht und frühen Tagwacht, gönnen wir uns eine wohlverdiente Dusche. Doch schon danach folgt der erste Schock – die Taschen liegen nicht da, wo ich es mit dem Kurier abgemacht habe. Kurze Panik kommt auf und ich laufe einmal kopflos und in den Unterhosen ums Haus – nur um zu bemerken, dass die Taschen bereits im Wohnzimmer stehen. Die anderen Hausgäste, ein Bergsteiger-Duo, muss sie in Empfang genommen haben. Also kurz packen, Taschen ans Velo montieren und es kann losgehen. Larry, ein Bekannter unserer Gastgeber, hat sich bereit erklärt uns nach Banff zu fahren. Wir laden die Räder auf und verbringen eine unterhaltsame, dreissigminütige Fahrt zum Startpunkt der Route. Einmal angekommen die obligaten Fotos und natürlich ein Einkauf. Denn die Strecke beginnt bereits abgelegen und ohne Verpflegungsmöglichkeit. Also beladen wir die Räder mit Essen für einenhalb Tage und wir bringen alles gerade so knapp in unsere Taschen. Nun kann es losgehen – doch die Great Divide will uns willkommen heissen und der Himmel öffnet die Schleusen. Dann machen wir die ersten Kilometer unserer Tour halt in voller Regenmontur. Der zweite Schock heute kommt als ich das GPS in Betrieb nehme, denn ich habe nur Europa-Karten geladen und keine für Nordamerika. Blöd von mir. Also gilt es zum Start nach alter Schule zu navigieren, mit Papierkarten und Orientierungssinn. Wir finden auch so zum Startpunkt der Route und es kann losgehen. Bis jetzt habe ich es irgendwie gar nicht realisiert, es geht tatsächlich los. Erneut! Doch zack, der Schalter ist umgelegt und der Abenteuermodus ist angeworfen. Keine 100 Meter aus Banff raus und ich weiss wieder wieso. Wieso all die Strapazen, wieso so weit reisen, wieso auf einem Fahrrad durchs Nirgendwo fahren. Es ist einfach einmal mehr unbeschreiblich schön. Einen reissenden Fluss zur linken, den Schotter unter dem Rad, die frische Briese im Gesicht und der Duft der Nadelwälder in der Nase. Es ist einfach magisch. Doch zurück zur Fahrt – bald einmal stellt der Regen ein und wir fahren bei Sonnenschein auf dem Goat Creek Trail in Richtung Süden. Stellenweise wird die Route sehr technisch und schwierig zu fahren. Es erfordert volle Konzentration die nassen und grossen Steine, die umgestürzten Bäume und die unzähligen Schlaglöcher zu umfahre und wir kommen dadurch nur langsam voran. Dafür ist es umso erlebnisreicher – teils auf Singletrails, teils auf Wanderwegen geht es stetig weiter. Bald bemerkt man den fehlenden Schlaf der letzten Tage, erst bei Patriks Leistung und später bei meiner Motivation. Denn die wunderschöne Strecke durch den Nadelwald und mit schönen Aussichten, tauschen wir nach 30km gegen eine breite, vielbefahrene Schotterstrasse ein. Zwar kommt man schneller vorwärts, dafür wird man alle zwei Minuten mit Staub eingehüllt. Immerhin halten die meisten Autos grossen Abstand – einige bremsen sogar etwas runter. Die nächsten 50 Kilometer sind ein stetiger Wechsel aus Schotter, Waschbrettpiste und Kies. Die optimale Spur zu treffen ist auch hier nicht einfach. Patrik fällt in den Aufstiegen oft weit zurück – die kurze Nacht und der Stress vor dem Abflug drücken auf sein Gemüt und seine Kraft. Irgendwann beschliessen wir uns mit Musik in einem Ohr zu motivieren. Dies und die Tatsache, dass wir mit Windunterstützung plötzlich schnell vorankommen hilft, das Tagesziel vor Augen zu behalten. Der erste Tour-Tag gibt aber nicht klein bei und hält noch einen dritten Schreckmoment für uns bereit. Denn plötzlich steht hinter einer Biegung ein Grizzly-Bär am Strassenrand. Wir machen in sicherer Entfernung (etwa 50m) Halt und machen akustisch auf uns aufmerksam. Man soll ja Bären nicht erschrecken… Zudem zücken wir den Bärenspray und entsichern ihn. Wo bleiben bloss die Autos, wenn man sie mal braucht? Denn der Grizzly kommt unbeirrt näher, aber nicht in einer bedrohlichen Art. Er trottet einfach gemütlich vor sich hin – dennoch, er kommt immer näher. Doch dann sehe ich, was den Bär anlockt, zwischen ihm und uns liegt ein totes Tier auf der Fahrbahn. Als er es erreicht, hebt er es mit den Zähnen auf, schaut sich nochmals um und trottet davon. In dem Moment hören wir auch endlich ein Auto kommen, in dessen Geleitschutz wir uns am Grizzly vorbei wagen. Schnell weg. Was für ein Weckruf der Natur! Da kommt es gelegen, dass die letzten Kilometer unspektakulär vonstatten gehen. Nach etwas mehr als fünfeinhalb Stunden erreichen wir den Camping am Kananaskis Lake, stellen unser Zelt auf und beenden den Tag mit einem kalten Nachtessen und Tagebuch schreiben. Bevors ins Moskito-sichere Zelt geht verstauen wir alle Esswaren und Toilettenartikel in einer bärensicheren Box und legen uns erschöpft schlafen.
81,8km / 5h36min / 1085 Höhenmeter